Rechenschwäche - Informationen für Eltern

Vorwort

Mathematik ist neben Deutsch das wichtigste Fach. Jedes Kind muss rechnen können, um in der Schule weiterzukommen und eine angemessene berufliche Laufbahn einschlagen zu können. Denn die Beherrschung der Grundrechenarten gehört zum unverzichtbaren Fertigkeitsbestand eines jeden modernen Menschen - auch und erst recht im Zeitalter des Taschenrechners. Wer nicht rechnen kann, für den ist auch ein Taschenrechner völlig nutzlos: Er weiß ja nicht einmal, welche Rechenaufgabe er in das kleine Gerät eingeben muss, damit es ausrechnet, was er wissen will.

Anders als im Deutschunterricht, wo manch einer seine Rechtschreibschwäche z.B. durch kreative, lebhafte Beteiligung am Unterricht kompensieren kann, lässt sich beim Rechnen nichts "wettmachen". Ein Kind kann rechnen oder kann eben nicht rechnen.

Mathematik ist ein streng systematisch aufgebautes Fach. Wer am Anfang nicht mitgekommen ist, für den ist es unmöglich, später bei "passender Gelegenheit" wieder einzusteigen. Wie soll z.B. ein Kind, das die Addition nur unzureichend verstanden hat, die Multiplikation begreifen, die die Vereinfachung aufeinander folgender Additionen gleicher Summanden ist? Und wie die Subtraktion, die die Umkehrung der Addition ist, und dann noch die Division, die die Umkehrung der Multiplikation ist? In der Mathematik kann man sich Wissenslücken nicht leisten.

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Wieso lernt mein Kind nicht rechnen?

Wenn Sie, liebe Eltern, diese verzweifelte Frage stellen, haben Sie und Ihr Kind vermutlich schon einen längeren Leidensweg hinter sich. Hat Ihr Sohn vielleicht schon im Vorschulalter regelmäßig "abgeschaltet", sobald es um Zahlen ging? Hat Ihre Tochter anfangs gerne gerechnet - und erst die Lust daran verloren, als sich zunehmend weniger Erfolg einstellte?

"Es muss mehr geübt werden!" -
war doch sicher auch Ihre Schlussfolgerung. Ab sofort wird daher nachmittags regelmäßig gerechnet. Wobei Sie sich natürlich sehr um Geduld bemühen, denn dass die Zeit zum Spielen verkürzt wird, ist ja schon hart genug. Sie rechnen vor, Ihr Kind rechnet nach. Manchmal klappt das auch, dann wieder nicht.

"Das Kind braucht Nachhilfe!" -
haben Sie sich vielleicht gesagt. Also übt Ihr Sohn zusätzlich mit einem Nachhilfelehrer. Aber was, wenn nach einer Woche oder spätestens nach der nächsten Mathe-Arbeit von all dem, was Ihr Kind eben noch "konnte", nichts mehr zu merken ist?

"Hat vielleicht die Schule versagt?" -
werden Sie sich gefragt haben. Die Lehrerin, der Lehrer wehren ab. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen, sie haben getan, was sie konnten. Und das stimmt auch: In der 1. Klasse der Grundschule werden schließlich 20 - 30 Kinder zusammengewürfelt, die im Alter noch ziemlich gleich sein mögen, in ihrem Zahlenverständnis hingegen total verschieden. Da gibt es Kinder, die sich im Zahlenraum bis 20 bereits zurechtfinden, und andere, die noch nicht bis 3 zählen können. Niemand, und sei er noch so engagiert, ist in der Lage, ihnen allen gleichzeitig und gleichermaßen gerecht zu werden.

Später schlägt der Lehrer vielleicht Förderunterricht vor. Jetzt gibt es Förderunterricht und Nachhilfeunterricht und zusätzlich wird zu Hause geübt. Klar, dass das eine Quälerei ist, aber was sein muss, muss sein. Ungeduld schleicht sich ein und nicht selten macht sich Verzweiflung breit - auf beiden Seiten:

Aus dem Schulanfänger ist ein echtes Problemkind geworden. Es ist "unkonzentriert, motivationslos und leistungsgehemmt" - so heißt es jetzt, vielleicht auch noch "verhaltensauffällig und aggressiv"; oder aber ein sogenanntes "unauffälliges" Kind, das verängstigt alles Lernen von vornherein abwehrt: "Das kann ich nicht!"

Was ist in den ersten Schuljahren wirklich passiert?
Hat das Kind denn wirklich nichts gelernt?

Doch, aber kein Rechnen. Vielleicht war Ihr kleiner Junge in seinem Zahlenverständnis noch nicht so weit, als in der Schule mit dem Rechnen begonnen wurde; vielleicht hat Ihre Tochter eine grundlegende Rechenoperation von Anfang an völlig missverstanden und niemand hat es bemerkt. Solche Kinder gehen oft im Klassenverband unter. Und weil ihre Schwierigkeiten unbemerkt bleiben, wird ihr quantitatives Denken nicht gefördert, sondern überfordert. Die Konsequenz: Sie verstehen nichts, der Unterricht geht völlig an ihnen vorbei und sie machen in ihrem Verständnis von Mengen, Zahlen und Rechenoperationen nicht die geringsten Fortschritte.

Rechenschwache Kinder, die ja alles richtig machen wollen, kämpfen zunächst sehr darum, den Anschluss nicht zu verlieren, obwohl sie nicht mitkommen. So mancher Junge lernt möglichst viel von dem, was er nicht versteht, auswendig, damit er im Zweifelsfall die richtige Antwort parat hat und sich nicht blamiert. Weil er auf diese Weise häufig auch zu richtigen Ergebnissen kommt, merkt niemand, dass er in Wirklichkeit gar nicht weiß, was er da tut. Seine Rechenschwäche bleibt unbemerkt.

Er lernt z.B., dass 2 + 2 = 4 ist. 2 • 2 ist auch 4.
Dann ist das "+" wohl so etwas Ähnliches wie das "•" - oder?
Warum ist dann 3 + 3 = 6, aber 3 • 3 = 9?

Antwort des Vaters, der fleißig mit seinem Sohn übt: "Weil man hier malnehmen muss." Diese Antwort hilft dem rechenschwachen Jungen überhaupt nicht weiter.

Hand aufs Herz: Könnten Sie dem Jungen mehr als das richtige Ergebnis sagen? Könnten Sie ihm dazu noch eine stichhaltige Begründung liefern, sodass er den Zusammenhang von Addition und Multiplikation versteht und so den Unterschied begreifen lernt? Wie lange müssen Sie überlegen?

Mit der Zeit wird der Abstand zwischen dem, was das Kind selber begriffen hat, und dem, was im Unterricht inzwischen dran ist, größer. Schon sind vierstellige Zahlen an der Reihe. Wie schreibt man Tausend? Mit einer 1 und drei Nullen. Warum? Die Mutter sagt: "Weil man das so macht". Dann soll das Kind die Zahl 1431 schreiben. Es will ja nichts verkehrt machen und schreibt: 1 000 431. Das enttäuschte, entnervte Gesicht der Mutter signalisiert: schon wieder daneben.

Fast jedes rechenschwache Kind gibt dann irgendwann auf. Es kapituliert vor der ihm unerklärlichen Tatsache, dass all seine Bemühungen letztlich fruchtlos bleiben. Wenn dann noch Vorwürfe dazukommen, ist von seinem natürlichen Selbstwertgefühl meist nicht mehr viel übrig. Die lieben Mitschüler, die manchmal recht gnadenlos sein können, tun oft ein Übriges dazu, dass einem rechenschwachen Kind das Fach, in dem es so viel persönliches Versagen erlebt hat, schließlich zutiefst zuwider ist.

Rechenschwache Kinder sind eine Minderheit, der die Institution Schule nicht gerecht werden kann. Sie erhalten dort nicht die spezielle Förderung, die sie bräuchten, weil sich die Schule hinsichtlich Stoff und Lerntempo an der Mehrheit der Schüler orientieren muss.

Häufig genug werden rechenschwache Kinder wegen ihres Leistungsrückstandes im Fach Mathematik insgesamt für dumm erklärt. Und diese Abqualifizierung kann sich dann im Sinne einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" zu einer generellen Lernbehinderung auswachsen: Die betroffenen Kinder werden zunehmend durch Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste bestimmt, sehen auch in anderen Fächern nur mehr Anforderungen, die sie nicht erfüllen können, und fallen allgemein in der Schule zurück, d.h. auch in den Fächern, in denen sie bisher durchschnittliche oder gar bessere Leistungen erbracht haben.

So kann eine nicht erkannte und daher auch nicht therapierte Rechenschwäche sehr weitreichende Konsequenzen haben.

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Treten Sie Vorurteilen entgegen!

Rechenschwache Kinder, deren Selbstwertgefühl schon genug darunter zu leiden hat, dass sie in einem so wichtigen Fach versagen, werden oft zusätzlich mit dem Vorurteil konfrontiert, sie seien dumm, faul oder unkonzentriert, also im Grunde selbst Schuld daran, dass sie nicht rechnen können.

Eine verhängnisvolle Schuldzuweisung, die nur durch Unkenntnis oder Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Dyskalkulie erklärlich wird. Verhängnisvoll in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird dem Kind damit ein äußerst ungerechtfertigter Vorwurf gemacht. Es kann ja nun wirklich nichts dafür, dass ihm nicht die spezielle Förderung seines quantitativen Denkens zuteil geworden ist, die es gebraucht hätte. Und zum andern wird ihm damit der Eindruck vermittelt, es sei bereits endgültig abgeschrieben.

Rechenschwache Kinder sind nicht dumm!
Die Ergebnisse, die ein rechenschwaches Kind errechnet, mögen einem flüchtigen Betrachter so erscheinen, als seien sie aus schierer Willkür und purem Zufall entstanden. In der Regel ist das nicht so; meist haben die Fehler Methode.

1. Frank z.B. errechnet Folgendes:

22 + 5 = 9

Er hat sich gemerkt, dass es bei der Addition zweistelliger Zahlen vorteilhaft ist, die Zahlen in ihre Stellen zu zerlegen, die Stellen einzeln zu addieren und dann die Zahl wieder zusammenzusetzen. Das macht Frank aber so:

22 + 5 = 2 + 2 + 5 = 9

Ihm fällt auch gar nicht auf, dass das Ergebnis seiner Addition kleiner ist als der erste Summand, zu dem er ja noch die Zahl 5 hinzuzählen soll. Das Stellenwertsystem muss diesem Jungen ein Buch mit sieben Siegeln sein!

2. Die kleine Sandra und ihre Rechenstrategie sind ein weiteres Beispiel. Sie verrechnet sich hartnäckig um 1. Die Aufgabe 4 + 3 bewältigt sie z.B. folgendermaßen:

Sie fängt mit der linken Hand an und zählt die Finger ab: Erster, zweiter, dritter, vierter Finger. Die "4" wäre geschafft. Anschließend kommt die "3" dran, nach derselben Methode, beginnend mit dem vierten Finger, der jetzt der erste ist. Der fünfte Finger ist jetzt der zweite und das gar nicht zufällige Ergebnis lautet "6".

Sandra, die noch keinen Mengen- und Zahlenbegriff hat, gibt sich große Mühe, trotzdem richtig zu "rechnen": Mithilfe der Finger und der auswendig gelernten Zahlenreihe passt sie darauf auf, dass ja nichts verloren geht. Sie hat also gar nicht 3 + 4 gerechnet, sondern ihre Finger abgezählt bis zum rechten Daumen, von dem sie weiß, dass der "6" heißt.

3. Ein drittes Beispiel ist Lothar mit seiner schriftlichen Subtraktion:

72 - 15 = 63

Er hat sich aus dem Unterricht gemerkt, dass immer die kleinere Zahl von der größeren abgezogen wird. Diese Regel wendet er jetzt bei der schriftlichen Subtraktion an. Er schreibt die Zahlen richtig untereinander:
  72
- 15

und beginnt richtig mit der Einerstelle. Dort stutzt er: 2 - 5 passt nicht zu der Regel, nach der die kleinere Zahl von der größeren abgezogen werden muss. Damit die Aufgabe passt, stellt er die Ziffern um und rechnet 5 - 2.

Für Lothar war diese Manipulation nötig, damit er die Aufgabe 72 - 15 lösen konnte. 7 – 1 = 6 und 2 - 5 = ?, geht nicht, also: 5 – 2 = 3. Sein gar nicht zufälliges Ergebnis lautet: 63.

Nicht durch Unkonzentriertheit, Gedankenlosigkeit oder Flüchtigkeit entstehen solche Fehler: Vielmehr hat das rechenschwache Kind sehr viel Konzentration und Gedankenarbeit aufgebracht, um die Aufgabe, die es lösen sollte, auch zu lösen. Es hat sich eine persönliche Rechenstrategie - wir nennen das einen subjektiven Algorithmus - zurechtgelegt, um mit der Aufgabe fertig zu werden.

... sie sind auch nicht faul!
Einem Kind, dessen Mengen- und Zahlenbegriff nicht entwickelt ist, nützt die Devise "üben, üben und nochmals üben" überhaupt nichts. Solange ihm der Begriff der Zahl fehlt, kann es schlechterdings nicht begreifen, was der Sinn von Rechenoperationen ist. Solange bringt auch das Üben keinen Fortschritt in der geistigen Beherrschung von Quantitäten, sondern nur sinn- und zwecklose Quälerei für Eltern und Kinder. Denn es wird ja nur das wiederholt, woran das Kind bisher gescheitert ist.

Bestenfalls wird dabei das trainiert, was das rechenschwache Kind in vielen Fällen schon überdurchschnittlich gut kann: Das Memorieren sinnlos erscheinender Zeichen und Laute und deren willkürlich erscheinender Kombinationen. Denn was für Erwachsene eine ganz normale, einfache Rechenaufgabe ist, z.B. die Addition

7 + 6 = 13,

ist für ein Kind, das Zahlen nicht "versteht", so verwirrend und undurchschaubar wie die "Rechnung"

§ + & = %*.

Stellen Sie sich einmal die geistige Anstrengung vor, die es kostet, sich Dinge zu merken, von denen man nicht weiß, was sie überhaupt bedeuten!

Manche Kinder lernen fleißig Ergebnisse auswendig. Katrin z.B. hat sich gemerkt, dass bei einer bestimmten Sachaufgabe, bei der sie zunächst "34" errechnet hatte, auf jeden Fall die Zahl "38" herauskommen muss. Noch eine Woche später ist sie sich da ganz sicher. Auf die Nachfrage, wie sie denn darauf gekommen sei, antwortet sie lapidar: "Es stand so an der Tafel." Den Lösungsweg kann Katrin nicht mehr angeben, gibt sich aber nun große Mühe zu überlegen, wie man die Aufgabe "so rechnen kann, dass 38 rauskommt". Eine ganze Woche lang hat sich Katrin eine unbegriffene, für sie willkürliche Zahl gemerkt. In dieser Hinsicht sind manche rechenschwache Kinder geradezu erschreckend fleißig!

Natürlich sind bei einem rechenschwachen Kind häufig auch Symptome zu beobachten, die den Verdacht auf Faulheit zu bestätigen scheinen: Es sitzt deprimiert herum, lässt mutlos den Kopf hängen, drückt sich um die Hausaufgaben, so gut es kann, sitzt dann ewig an den Aufgaben, "ohne sich zu konzentrieren" und scheint insgesamt träge und faul zu sein.

In Wirklichkeit konzentriert es sich vielleicht doch, nur eben auf etwas anderes. Viele rechenschwache Kinder sind extrem misserfolgsorientiert: Sie haben solche Angst, schon wieder zu versagen, dass sie ihren Kopf für nichts anderes mehr frei haben. Diese "Unkonzentriertheit" kann Folge einer Dyskalkulie sein.

... sie sind nur verzweifelt und enttäuscht.
Enttäuscht, weil all ihre Bemühungen umsonst waren, und verzweifelt, weil sie nicht wissen, was sie daran ändern können. Dabei befinden sie sich nicht nur subjektiv in einem Dilemma, sondern auch objektiv: Was nützt der gute Wille, richtige Ergebnisse zu liefern und falsche zu vermeiden, wenn gleichzeitig gar nicht klar ist, wie man "richtig" und "falsch" unterscheiden kann! Das ständig wiederkehrende Erlebnis des eigenen Unvermögens führt auf die Dauer zur Entmutigung. Die Kinder resignieren und wollen mit "all dem" von vornherein nichts mehr zu tun haben: "Das kann ich doch nicht!"

Besorgte Eltern werden hier wiederum selbstkritisch und meinen, sie hätten ihre Kinder nur nicht genug gefördert. Wie den meisten Erwachsenen ist ihnen Rechnen eine Selbstverständlichkeit. Sie brauchen sich über den Zusammenhang von Mengen, Zahlen, Zahlenaufbau und Rechenoperationen keine Gedanken mehr zu machen, weil sie den Umgang mit Zahlen beherrschen. Aber genau das macht sie auch blind gegenüber den speziellen Lernproblemen ihres Kindes: Sie begreifen ihrerseits nicht, was mit ihrem Kind eigentlich los ist, warum es nicht rechnet wie sie.

Verschärfend kommt hinzu, dass die häuslichen Übungen für alle Beteiligten Überstunden sind. Nicht nur der Vater hat bereits einen ganzen Arbeitstag hinter sich, ebenso das Kind, das nach der Schule und den anschließenden Hausaufgaben eigentlich dringend ein paar Stunden freie Zeit bräuchte. Da schleicht sich dann leicht Ungeduld ein und nicht selten endet der gut gemeinte Nachhilfeunterricht mit Wutausbrüchen und Tränen.

Für die Selbsteinschätzung des rechenschwachen Kindes hat dies katastrophale Folgen. Nachdem es bereits in der Schule "gelernt" hat, dass es fürs Rechnen einfach zu dumm ist, bekommt es anschließend durch die häusliche, ihm ganz persönlich gewidmete Rechenstunde die endgültige Bestätigung seiner Minderwertigkeitsgefühle.

Was als Hilfe für das rechenschwache Kind gemeint war, kann so eine Verschärfung der Problematik bewirken.

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Ihr Kind braucht Ihr Verständnis

Machen Sie einmal folgendes Gedankenexperiment:

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Beruf, der Ihnen gar nicht liegt, und müssten fast täglich Arbeiten verrichten, mit denen Sie sich nicht auskennen und bei denen Sie bestenfalls zufällig mal etwas richtig machen. Man tuschelt bereits über Sie und Ihr Unvermögen, man beschuldigt Sie, keine Einsatzbereitschaft zu zeigen, man macht sich über Sie lustig, man reagiert genervt, sobald Sie auftauchen und womöglich etwas wissen wollen. Schließlich werden Sie offen der Unfähigkeit bezichtigt.

Völlig klar: Sie fänden die Situation nicht zum Aushalten, würden so bald wie möglich kündigen und sich um eine andere Arbeit bemühen.

In einer vergleichbaren Situation befindet sich ein rechenschwaches Kind in der Schule. Es kann den Anforderungen nicht genügen, es wird von anderen beschuldigt oder gehänselt, seine Situation ist nicht zum Aushalten, aber es kann nicht kündigen. Hier ist Ihr Kind auf Ihr Mitgefühl angewiesen, darauf dass Sie es verstehen, wenn es von seinem Ärger berichtet, über Mitschüler oder Lehrer klagt oder empört ist über ungerechte Behandlung.

Bedenken Sie: Kein rechenschwaches Kind ist schuld an seiner Situation, es leidet selbst am meisten darunter, dass es mathematische Dinge nicht ebenso problemlos versteht wie viele seiner Mitschüler. Wenn dann trotz aller Bemühungen eine 5 unter einer Klassenarbeit steht, womöglich mit dem Zusatz „du musst dich mehr anstrengen!“, dann ist das wie eine Strafe. Aber eine Strafe für was? Das betroffene Kind selbst hat ja gar nichts verbrochen und hat nicht Strafe verdient, sondern Hilfe. Denn es hat ja aus eigener Kraft gar nicht die Möglichkeit, sich aus seinem Unverständnis herauszuarbeiten, sondern ist angewiesen darauf, dass andere ihm Hilfestellungen bieten, die es verstehen kann. Diese Hilfe wiederum findet in der Regel in der Schule nicht statt und je weiter der Schulstoff fortgeschritten ist, umso weniger bietet er dafür überhaupt eine Möglichkeit. Die schlechte Note stellt daher keinen pädagogisch sinnvollen Umgang mit den Lernschwierigkeiten ihres Kindes dar, sie muss ihm als eine große Ungerechtigkeit erscheinen, mit der schwer fertig zu werden ist.

Hier ist Ihr Verhalten wichtig: Achten Sie darauf, dass Sie keinen Ärger und keine Enttäuschung zeigen, wenn Sie Ihre Unterschrift unter eine schlechte Klassenarbeit setzen. Denn das wäre so, als ob Sie Ihr Kind dafür, dass es in der Schule abgestraft wurde, zu Hause noch einmal bestrafen. Sie sollten bewusst gegensteuern und Ihrem Kind erst recht mit Liebe und Verständnis begegnen, wenn es unglücklich mit einer schlechten Note nach Hause kommt. Ihr Kind braucht den seelischen Rückhalt bei Ihnen. Es braucht dann, wenn es in der Schule mit einer schlechten Note gewissermaßen verurteilt worden ist, die Sicherheit, dass wenigstens zu Hause jemand auf seiner Seite steht.

Daher ist es auch wichtig, dass Ihr Kind gelobt wird, wo immer sich ein Anlass dazu bietet, auch wenn er noch so nichtig erscheint, und dass es in Schutz genommen wird, wenn andere sich über es lustig machen. Wenn sich Ihr Kind bemüht, wenn es Einsatzbereitschaft zeigt, dann sollte das gewürdigt werden – unabhängig davon, ob es von Erfolg gekrönt ist oder eine gute Note zeitigt.

Achten Sie darauf, dass das Fach Mathematik nicht zum beherrschenden Gesprächsgegenstand wird, bestehen Sie darauf, dass es noch andere Dinge im Leben gibt, die unter Umständen viel wichtiger sind. Ihr Kind wird keinen Beruf anstreben, in dem Mathematik eine große Rolle spielt. Dann ist es aber auch für seinen weiteren Lebensweg entscheidend, dass sich seine anderen Talente weiterentwickeln können. Dafür braucht es Zeit, Gelegenheit und im Zweifelsfall Ihre Förderung. Sorgen Sie dafür, dass möglichst viel von den Dingen die Rede ist, bei denen sich Ihr Kind auskennt und für die es sich interessiert. Ermutigen und unterstützen Sie Ihr Kind in seinen nicht-mathematischen Interessen und Fähigkeiten, so gut es geht. Sie fördern damit seine Entwicklung und könnten so einiges dazu beitragen, sein beschädigtes Selbstwertgefühl zu stabilisieren.

Und verschaffen Sie sich möglichst früh Gewissheit darüber, wie es um die Schwierigkeiten ihres Kindes wirklich bestellt ist.

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Worin sich Rechenschwäche zeigen kann?

Ist Ihr Junge im Rechenunterricht wesentlich schlechter als in Deutsch? Ist Ihre Tochter darin zwar ähnlich gut, hat aber unverhältnismäßig mehr damit zu kämpfen, dass sie mitkommt?

Dann beobachten Sie Ihr Kind. Stellen Sie fest, welche Fehler es macht und wo es nicht mehr weiter weiß.

Die Frage, ob ein Kind grundlegende Defizite auf dem Gebiet des quantitativen Denkens aufweist, ob also eine Dyskalkulie vorliegt, kann nur durch eine ausführliche fachliche Untersuchung geklärt werden.

Ihrem Kind kann ein überflüssiger und sehr zermürbender Leidensweg erspart werden, wenn die Dyskalkulie frühzeitig erkannt und therapiert wird. Bei der Früherkennung kommt Ihnen dabei die wichtigste Rolle zu, vor allem in den unteren Klassen. Der Lehrer kann unmöglich erkennen, ob hinter den richtig gerechneten Hausaufgaben in Wirklichkeit die große Schwester steckt, und die kleine Schwester wird aus Scham davon nichts erzählen. Aber Sie wissen es: Kommt Ihre Tochter von sich aus auch auf richtige Ergebnisse? Schreibt Ihr Sohn nur das mit Zuversicht nieder, was jemand anders ausgerechnet hat? "Diktieren" Sie Ihrem Kind die richtigen Lösungen? Es hilft Ihrem Sprössling nicht weiter, wenn er mit Ihrer Hilfe zu Hause die Lösungen büffelt und diese dann in der Schule korrekt auswendig hersagen kann. Er kann so vielleicht seine Dyskalkulie vor Lehrern und Mitschülern eine Zeit lang verbergen - behoben wird sie dadurch nicht.

Für den Erfolg der Therapie hängt sehr viel davon ab, dass eine Rechenschwäche möglichst frühzeitig erkannt wird. Zwei Dinge sind dafür ausschlaggebend: Zum einen können Versagensängste und Misserfolgsorientierung in so jungen Jahren die gesamte seelische Entwicklung eines Kindes schwer beeinträchtigen, Zum andern ist in den ersten Schuljahren der Abstand zum aktuellen Schulstoff noch nicht so groß und therapeutische Erfolge können sich schneller in Schulerfolgen niederschlagen. Und Erfolg ist immer noch der wirksamste Motor, um Lernmotivation und Selbstvertrauen wiederherzustellen

Aber auch bei älteren Kindern und Jugendlichen, die sich schon seit einigen Jahren mit einer verschleppten Dyskalkulie und ihren Folgen herumschlagen, ist noch längst nicht "alles zu spät". Hier steht zunächst die diagnostische Erfassung der mathematischen Kompetenz im Vordergrund, Das vorhandene Wissen wie auch die Lücken und die falschen Sicherheiten, vor allem im mathematischen Grundlagenbereich, müssen genau bekannt sein, damit man gezielt mit der Erarbeitung der notwendigen Bereiche beginnen kann.

Die betroffenen Jugendlichen oder Heranwachsenden leiden in der Regel schon lange unter Minderwertigkeitsgefühlen und Versagensängsten, die sie so gut wie möglich zu verbergen suchen. Es ist für sie beruhigend und eine entscheidend positive Perspektive, wenn sie die Chance bekommen, ihre Defizite in diesem Bereich abzubauen oder zumindest zu verringern, bevor sie ins Berufsleben gehen.

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